Intersektionen von Lebensalter und Geschlecht im Pietismus

Intersektionen von Lebensalter und Geschlecht im Pietismus

Organisatoren
Ulrike Gleixner, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel; Xenia von Tippelskirch, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Förderer
Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
04.05.2023 - 06.05.2023
Von
Eva Kormann, Institut für Germanistik, Universität Karlsruhe

Generalisierende Epochenkonstruktionen und Aussagen über gesellschaftliche Strömungen sind in den Kulturwissenschaften in Misskredit geraten. Differenzierende Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, soziale Schicht, geschlechtliche Orientierung und Religionszugehörigkeit erweisen sich spätestens seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts als erkenntnisfördernd und gesellschaftspolitisch handlungsleitend. Kimberlé W. Crenshaws soziologisches und sozialpolitisches Intersektionalitätskonzept fokussierte die Interaktion, die nicht immer lineare Wechselbeziehung zwischen diesen differenzierenden und damit sozialpolitisch diskriminierenden Kategorien und prägte dafür den Begriff der Intersektionalität.

Dass Crenshaws gegenwartsbezogenes, pragmatisches Modell auch Frühneuzeitforschung inspirieren kann, bewies die Wolfenbütteler Tagung des Arbeitskreises Gender & Pietismus. Ulrike Gleixner (Wolfenbüttel) und Xenia von Tippelskirch (Frankfurt am Main) luden dazu ein, die Intersektionen von Lebensalter, Geschlecht und religiöser Ausrichtung in verschiedenen pietistischen Konstellationen in den Blick zu nehmen. Intersektionen verstanden sie dabei mit Matthias Bähr und Florian Kühnel als „verschränkte Ungleichheiten“. Bähr und Kühnel widmeten 2018 frühneuzeitlichen Intersektionen ein Beiheft der Zeitschrift für historische Forschung und plädierten darin für zwei Öffnungen des Konzepts, die eine geschichtswissenschaftliche Anwendung ermöglichen: Das Verständnis der Folgen von Ungleichheit muss genauso historisiert werden wie die Auswahl der diskriminierenden bzw. differenzierenden gesellschaftlichen Kräfte.

In ihrem Einführungsvortrag schloss sich Xenia von Tippelskirch an diese Konzeption an: „Wir wollen bewusst nach Zusammenhängen von Geschlecht – Alter – Religion (bzw. Pietismus) fragen, Zusammenhänge, die durchaus immer einmal wieder Erwähnung fanden, ob nun in den Quellen oder auch in der historischen Rekonstruktion, die aber analytisch nie explizit und vergleichend im Fokus standen.“ Sie und Gleixner betonten zudem das performative Verständnis der Kategorien: Lebensalter und Geschlecht werden nicht ausschließlich als biologische Festlegungen, sondern als performative Zuschreibungen verstanden: doing age hieß das propagierte Konzept, analog zu doing gender. Religion – für den Arbeitskreis Gender & Pietismus dabei vor allem in pietistischer Ausprägung – stellt die Spielregeln auf, strukturiert den institutionellen Rahmen, in dem doing gender und doing age sich verschränken. Insofern lässt sich, und das machten die folgenden Vorträge immer wieder deutlich, Alter zunächst rein chronologisch als messbares Lebensalter, aber auch biologisch-funktional auf die körperliche Leistungsfähigkeit bezogen oder kulturell-sozial betrachten im Hinblick auf jeweilige Konzeptionen von Zugehörigkeiten und Lebensaltervorstellungen.

Wie fruchtbar ein historisierend intersektionaler Blick auf Lebensalter und Religion sein kann, zeigte der glanzvolle Abendvortrag von CHRISTINA PETTERSON (Kopenhagen/Nuuk). Die Theologin und Kulturwissenschaftlerin, die in Dänemark, Australien, Grönland und Deutschland forscht und lehrt, weitete den Horizont, indem sie ein weitläufiges Quellenmaterial der Herrnhuter Brüdergemeinen in Christiansfeld, Dänemark, und Neuherrnhut (Grönland) befragte: Aus dem herrnhutischen Chorsystem, den aufgezeichneten Lebensläufen und den Protokollierungen von Geburtstagsfesten arbeitete sie die Spannung zwischen einem innerweltlichen chronologischen Zeitkonzept, dem Chronos, d.h., dem Lebensalter zwischen Geburt und Tod, und einer auf Gott und die Ewigkeit bezogenen Vorstellung von Temporalität heraus. Als Gegenbegriff zur weltlichen Chronologie schlägt sie mit Bezug auf Dieter Gembicki das Konzept des Kairos, des begnadeten Moments, des Zustands der Glückseligkeit vor als einen Begriff für ein auf das Spirituelle bezogenes Zeitmodell, das sich nicht chronologisch messen und gliedern lässt, aber Zeitvorstellungen in religiösen Gemeinden geprägt hat.

Der pietistischen Ordnung des innerweltlichen Lebens im 19. und 20. Jahrhundert widmete sich die erste Sektion. Die Theologin RUTH ALBRECHT (Hamburg) beleuchtete die (auch alters-)gruppenspezifischen Missionierungsbemühungen der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts in Hamburg. Konzepte von Lebensalter in Interaktion mit anderen sozialen Variablen entwickelten sich innerhalb der Erweckungsbewegung, so Albrecht, aus dem Interesse heraus, zielgruppenorientiert zu missionieren.

Die Ethnologin CHRISTEL KÖHLE-HEZINGER (Tübingen) dekonstruierte in ihrem Beitrag zum Habitus der Frommen im Pietismus mit dichtem Quellenbezug aus dem bis heute fortlebenden schwäbischen Pietismus u.a. alltagsweltliche Vorstellungen von Tracht.

Mit der Debatte über Lebensalter immer verbunden ist die Frage nach Zuschreibungen von Fähigkeit bzw. deren Einschränkung. Die Historikerin JESSICA CRONSHAGEN (Oldenburg) befragte ihre Quellen zur Herrnhuter Surinam-Mission im 18. Jahrhundert auf Konzeptionen und Markierungen von Alter und Geschlecht: Alter und Geschlecht, so zeigte sie, werden im Schriftverkehr der herrnhutischen Surinam-Missionar:innen im Hinblick auf die Eignung zur Arbeit diskutiert. Für die Mission im entlegenen Saramacca-Gebiet schienen gerade ältere Frauen geeigneter als jüngere, da die Sterblichkeit von Europäer:innen in diesem Gebiet generell sehr hoch und die Mütter- und Säuglingssterblichkeit extrem war. Ältere Frauen galten als anpassungsfähiger und in der Missionstätigkeit als tüchtig und geübt. Bei Maroon-Frauen unterscheiden die Herrnhuter Quellen Alter nur in gröberen Kategorien (Kinder, Erwachsene, Greise). Als zentrale Ordnungskategorie erscheine in den Briefen die Ethnie. Cronshagen verdeutlichte, dass die Briefe der Missionar:innen häufig Körperliches verhandeln und Gesundheitsvorsorge als wichtige Pflicht bei der Missionstätigkeit betonen.

Herrnhutische Briefwechsel bieten reichhaltiges Material für eine Fülle von intersektionsorientierten Studien. Die Kirchenhistorikerin MARITA GRUNER (Hamburg) untersuchte Briefe Benigna von Wattevilles im Hinblick auf das dort geäußerte Konzept einer gesunden psychischen Konstitution bei erwachsenen Frauen aus der herrnhutischen Führungsschicht. Gruner entnahm den Briefen ein Lob der Munterkeit, eines maßvollen Trauerns und einer ausgeprägten Kommunikationsfähigkeit, die sich in Besuchen und Briefen äußern müsse.

Lebensalter, Geschlecht und Religion prägen in diversen Verschränkungsmöglichkeiten auch die menschliche Selbstwahrnehmung und Selbstkonzeption. Diesem Zusammenhang widmeten sich zwei Vorträge junger Forschender an Selbstzeugnissen und ähnlichem Quellenmaterial. SELINA BENTSCH (Basel) sprach über Handlungsspielräume einer alternden Witwe in Basel: Anna Maria Preiswerk-Iselin war eine fleißige Tagebuchschreiberin. Ihre Tagebücher haben sich im Staatsarchiv Basel-Stadt erhalten und sind in einer digitalen Edition im Netz zugänglich. Bentsch durchforstet das Schreiben der gebildeten und begüterten Angehörigen des sogenannten Basler Daigs nach Beschreibungen und Reflexionen über Handlungspläne und -möglichkeiten. Es zeigt sich, dass die Kombination von höherem Lebensalter und weiblichem Geschlecht auch bei Personen aus einer hochprivilegierten Schicht die Handlungsspielräume einschränkt: Preiswerk-Iselin wollte in Basel eine Mädchenschule gründen, das Projekt scheiterte an den Widerständen innerfamiliärer und finanzieller Art.

LENNART GARD (Berlin), Doktorand im Forschungsprojekt „Plurale Protestantismen“, weitete mit seinem begriffsdifferenzierenden und -historisierenden Vortrag zur protestantischen Gemeinschaftlichkeit und deren Bezug zu ständischer Ordnung den Blick auf den historischen und kontextbezogenen Wandel von intersektionalen Kategorien: Am Beispiel der Briefe und Sendschreiben von Johann Georg Gichtel und Johann Wilhelm Überfeld sowie ihrem Umfeld erwiesen sich Ordnungsbegriffe wie Geschlecht und Ehe als durchaus fluide.

Der Abschlusstag der Konferenz gehörte zunächst der Grande Dame der genderorientierten Literaturwissenschaft, die sich zu Beginn ihres Vortrags launig an ihre Pionierarbeit im Hinblick auf eine Genderorientierung der Wolfenbütteler Barockkongresse erinnerte: Die Germanistin BARBARA BECKER-CANTARINO (Austin, TX) widmete ihren quellengesättigten Vortrag dem Lebensabschnitt Ehe im Pietismus anhand von Selbstzeugnissen der nordamerikanischen Herrnhuter:innen im 18. Jahrhundert. Aus Eheberichten an den Bischof und Diarien lediger Schwestern und Brüder filterte sie Gründe für Eheschließungen, für den Wunsch nach Ehelosigkeit und Beschreibungen von Rollen der Ehepartner heraus, wobei die Brüder Frauen meist als Gehilfinnen sahen und suchten. Der Begriff der Streiterehe findet sich in ihrem Quellenbestand nicht, auch die Frauen zeigten sich meist einverstanden mit einer untergeordneten Rolle. Während in den Anfangsjahren der nordamerikanischen Moravians die Kinder früh von ihren Eltern getrennt wurden – Becker-Cantarino nennt das Beispiel eines 10monatigen Säuglings –, damit die Eltern in der Mission tätig sein konnten, wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gemeinökonomie aufgelöst und eine familienorientierte Wirtschaft eingeführt, was eine gefühlvolle Familienbindung entstehen ließ.

Dass Lebensalter bei pietistischen Gruppierungen den Quellen zufolge oft aus strategischen Gründen in den Blick gerät und spezifische Altersgruppen pragmatisch aus Gründen der Bekehrung bzw. Missionierung angesprochen werden, erwies – neben Ruth Albrechts Blick in die Hamburger Erweckungsbewegung – der Vortrag der dänischen Kirchenhistorikerin SIGRID NIELSBY CHRISTENSEN (Kopenhagen). Sie stellte die werbenden Bemühungen der Herrnhuter in Kopenhagen um die Kinder des dortigen Vajsenhuset, eines Waisenhauses nach Halleschem Vorbild, vor: Die vom dänischen König unterdrückten Herrnhuter versuchten so ihren Einfluss „durch die Hintertür“ zu vergrößern.

Dass Jugend und Geschlecht in pietistisch geprägter Praxis nicht nur fürsorglich und missionarisch in den Blick gerieten, sondern auch disziplinatorisch, will der Historiker MICHAEL ROCHER (Siegen) im Rahmen des Forschungsprojekts „Jugendkriminalität in der Sattelzeit“ erweisen. Sein Einblick in erste Ergebnisse bildete den Abschlussbeitrag der anregenden Tagung.

Mit dem Augenmerk auf Intersektionen von Geschlecht und Religion mit verschiedenen Lebensaltern betraten Gleixner und von Tippelskirch durchaus Neuland. Das zeigte sich auch in den Vorträgen und Diskussionen, bei denen die komplexe Verschränkung von Lebensalter und Geschlecht und das doing age verstärkt oft erst in der an jeden Vortrag anschließenden Diskussion in den Blick genommen wurde. Pettersons Differenzierung zwischen weltlicher und heilsgeschichtlicher Zeitlichkeitsvorstellung, also einer Historisierung und Kontextualisierung auch von Lebensalterkonzepten, erwies sich dabei immer wieder als zielführend. Verschränkte Ungleichheiten aus historisch-anthropologischer Perspektive explizit zu beleuchten, erscheint daher, so waren sich Veranstalterinnen und Teilnehmer:innen einig, als vielversprechendes Forschungsprogramm.

Konferenzübersicht:

Ulrike Gleixner (Wolfenbüttel): Begrüßung

Xenia von Tippelskirch (Frankfurt am Main): Einführung in das Tagungsthema

Keynote
Moderation: Ulrike Gleixner

Christina Petterson (Kopenhagen/Nuuk): Age as pieces of heavenly time in the world

Sektion 1: Ordnung des Lebens
Moderation: Pia Schmid

Ruth Albrecht (Hamburg): Handwerker, Kellner, Kinder, Jugendliche, Dienstmägde, Mütter ... Spezifizierte christliche Missionierungsbemühungen im 19. Jahrhundert

Christel Köhle-Hezinger (Tübingen): Der Habitus der Frommen. Alter, Geschlecht und Gewand im Pietismus auf dem Weg ins 20. Jahrhundert

Sektion 2: Ability/Disability
Moderation: Christian Soboth

Jessica Cronshagen (Oldenburg): Das Schreiben über Alter, Geschlecht und Gesundheit in der Herrnhuter Mission unter den Maroons Surinames

Marita Gruner (Hamburg): Erfahrungen und Umgang mit den Grenzen „mentaler Gesundheit“ im Kontext der Religiosität der Herrnhuter Brüdergemeine

Sektion 3: Selbstwahrnehmung und Self-Fashioning
Moderation: Eva Kormann

Selina Bentsch (Basel): Wahrnehmen und Erleben von Alter und Altern in den Tagebüchern der Baslerin Anna Maria Preiswerk-Iselin (1758–1840)

Lennart Gard (Berlin): Von keuschen Eheschwestern und Ehegemeinschaften unter Brüdern. Protestantische Gemeinschaftlichkeit zwischen Affirmation und Reinterpretation ständischer Ordnung

Sektion 4: Lebensabschnitte
Moderation: Gisela Mettele

Barbara Becker-Cantarino (Austin, TX): Lebensabschnitt Ehe im Pietismus: Stimmen über ihre Ehe von Herrnhutern im 18. Jahrhundert in Nordamerika

Sigrid Nielsby Christensen (Kopenhagen): Perception of Orphans in the Moravian Society in Copenhagen

Michael Rocher (Siegen): Jugend und Geschlecht in der Brandenburg-Preußischen Policey 1750–1806 sowie Nachwirkungen pietistischer Erziehungsvorstellungen um 1800

Abschlussdiskussion
Moderation: Ulrike Gleixner